5h. 118
Beilage Ser Münchner Neuesten NachrichkrS
Seite 873
Sich bemühn muß auch der, der diese Gedichte genießen will. Sie gleichen alle ein wenig der verschwiegenen Nordseeinsel, von deren Bewohnern er sagt:
.Sie reden selten
Und jeder Satz ist wie ein Epitaph Für etwas Angeschwemmtes, Unbekanntes.
Und so ist alles, was ihr Blick beschreibt:
Ein Großes, Rücksichtsloses, Hergesandtes,
Das ihre Einsamkeit noch übertreibt.
Vielleicht klingt das manchem wie eine Abschreckung, ^ber es soll nur eine Warnung sein, nicht mit Alllags- maßen und Gefühlen in die andächtige Stille von Rilkes Kunsttempel einzudringen. Aber man soll seine Poesie ebensowenig von außen aburteilen, ehe man sich bemüht hat, in sie einzudringen; denn auch diese Gedichte sind nach Goethes bekanntem Vergleich gemalte Fensterscheiben, deren mystische Farbenpracht sich nur dem Jnnenstehenden erschließt. Eine „Einführung" meinerseits aber ist auf dem verfügbaren Raume nicht möglich: wer eine solche sucht, den verweise ich auf den schönen Aufsatz von Rilkes alter Freundin, der bekannten Frauenrechtlerin Ellen Key sin „Deutsche Arbeit", Prag 190,7, Heft 5 und 6), sowie auf meine und Dr. Enders' kritische Ausführungen in den Mitteilungen der Literarhistorischen Gesellschaft Bonn (2. Jahrgang Nr. 6).
Cbarlottenburg.
Friedrich v. Oppeln - Bronikowskl.
Bücherbesprechungen.
und mehr gefesselt, in die Irrgärten des Fraueisschia. sals, die sie uns aufschließt.
Das Tränenhaus, eine baufällige Hütte in einem abgelegenen Dörfchen, ist die „Pension" einer weisen Frau, in der verlassene und verratene Mädchen, fern von der Welt, ihre schwere Stunde erwarten dürfen. Für eine kurze Spanne Zeit teilen wir die Schicksale dieser Unglücklichen, die Leichtsinn und Unwissenheit, aber auch Verführung und Verbrechen aus den verschiedensten Gesellschaftskreisen unter das gleiche Dach geführt bat. Es wird uns nicht viel örspart in diesem Buch. Wir erleben kraß erschütternde, unendlich peinvolle und abstoßend groteske Szenen. Alles aber ist gemildert durch die überzeugende Gestaltungskraft Der Verfasserin, durch die Mäßigung, die sie bei aller Realistik der Schilderung sich auferlegt und durch die Wucht und Schwere des Problems selbst, auf das sie mit eindringlichstem Ernst hinweist.
Im Grunde ist dieser Roman ein j'uaause, ein Mahnwort an die glücklichen, wohlbchüteten Frauen, die noch so gern den ersten Stein Wersen auf eine „ge- fallene" Schwester, bic hier, auf ihrem eigensten Gebiet, Not verschärfen statt zu lindern und so Mitschuld tragen an manch einer gescheiterten Existenz, die wertvoll war trotz ihrer Unfähigkeit, die allein vor- eschriebene Straße zu wandeln. Aber drohend steht ier dos ewig wache Gespenst der Gcscllschastsmoral, lehrt die Frau verdammen und verstoßen, wo sie allein trösten, helfen und heilen könnte durch die Macht ihres Verstehens, die dem Manne ja fehlen muß.
„Die Frauen", läßt Gabriele Reuter ihre Heldin ausrufen, „sind keiner Rechte wert - keiner bürgerlichen und keiner ideellen —, solange sie dies ihr heiligstes Recht, ihre gewaltigste Pflicht und Macht nicht erfassen wollen!" E. H.
Homers Ilias. In deutscher Uebersetzung von I o h. Ö e i n r. V o ß. Herausgegeben von Hans F e i g l. Vorwort von Willy Pastor. Verlegt bei Karl Konegen (Ernst Stülpnagels, Wien. 1908. Mit Buchschmuck von R. Junk und der Reproduktion einer Homerbüste. In grünem Leder 10 Jl
Ter Verlag hat mit dieser Jliasausgabe gewiß eine Dankespflicht gegenüber I. H. Voß erfüllt, dessen Werk
i chon so vielen die Bekanntschaft mit Homer vermittelt >al: nun steht die alte ehrliche Uebersetzung endlich auch in würdigem Gewände da. Man kann nur hoffen, daß die Vertrautheit mit dem größten Denkmal griechischer Dichtkunst, dessen unbefangene Lektüre ja so wenig Gelehrsamkeit voraussetzt, durch diese anziehende Ausgabe gesördert werde. Ein allgemein orientierendes Vorwort schrieb Willy Pastor; man braucht sie ja nicht philologisch zu zerpflücken, aber daß Pastor gar so fest von Homers Blindheit überzeugt ist und aus ihr (Seite XII) sein Genie ableiten will, können wir nicht besonders scharfsichtig finden. — Dem 2. Band, der Odyssee, die noch im November erscheinen soll, werden die Bibliophilen mit Interesse entgegensehen. 8t. L.
Das TräuenhauS. Roman von Gabriele Reuter. Berlin. S. Fischer Verlag.
Für uns, die wir im Lichte wandeln, ist es eine seltsam fremde, fast grauenvolle Welt, in die Gabriele Reuters neuer Roman: „Das Tränenhaus" uns ein- führt. Nach den ersten Schritten möchten wir gern den Fuß zurückziehen von diesem Boden, der nur mit Blut und Tränen, mit Seufzern und Verwünschungen getränkt scheint. Aber die Kunst der Erzählerin weiß «ns fejrzuhaUen. Und so folgen wir ihr, immer mehr
Reise des kleinen Nils Holgerson mit den Wild- aänsen. Von Selma Laaer lös. Dritter Teil. Verlag Albert Langen, München, 276 Seiten.
Ziemlich schnell nach dem zweiten Band hat Selma Lagerlöf den dritten, Schlußband ihrer Geschichte: Reise des kleinen Nils.Holgerson mit den Wildgänsen veröffentlicht. Der kleine Nils ist nun wieder in die Heimat zurückaekehrt, nachdem er mit den Wildgänsen bis nach Lappland geflogen war. Die Spannung dieses dritten Teils, die im ersten durch den Krieg der Wildgänse, insbesondere ihres Ritters, eben des kleinen Nils, gegen den Fuchs Smirre, im zweiten durch die Gefangennahme des kleinen Nils bestritten wurde, hebt sich im dritten nochmals zu besonderer Höhe: Smirre der Fuchs zwar wird durch den Edelmut des kleinen Nils, der doch nur das Nächstliegende, das Naturgemäße auszuführen scheint, — aber das ist ge- rade der Lagerlös Kunst und Absicht, daß in ihren Werken sich immer das Ungeheure so sehr einfach darstellt, — nur dem ganzen feinen Geiste erscheint das Gütigste als das Einfachste, obgleich es in der Tat umeist das einzig endlich Entwirrende, zur Ruhe ringende ist, — Smirre, der Fuchs, wird bezwungen, versöhnt: der Adler Gorgo hat den kleinen Nils aus der Gefangenschaft befreit, ihn dort hingeführt, wo er seines Ehrenwortes, optima fide ledig wird, ihn mit seinen getreuen Wildgänscn wieder vereinigt, alles scheint zur glücklichen Heimkehr, nach Hause ins Men- fchendasein zurück, vorzuberciten. — da erhebt sich, in der Natur der erst jetzt öffentlich werdenden Bedingungen für die Entzauberung des kleinen Nils ein tchweres Hindernis. Nun, gerade, als er sich jeder Hoffnung entschlagen, sich mit jedem Ungemach inner-