Sette 868
Beilage der Münchner Neuesten Nachrichten
Nr. ,18
lebendiger Erfahrung. Den nahezu grotesken Charakter des Aesopromans saßt er lebhaft auf. Von der Quintilianstellc ausgehend, hebt er hervor, daß bei jungen Kindern die Lust und Liebe desto größer wird, „wenn ein Esopus oder dergleichen Larva oder Fast - n a ch t P u jä fürgestellt wird, der solche Kunst ausrede oder fürbrmge, daß sie beste mehr drauffmerken und gleich mit lachen annemen und behalten". Mit anderen Worten: Der Acsoproman erscheint ihm als eine romanhafte Rahmenerzählung, ersonnen. nur um der schönen Märlein willen, die in verschiedenen Zeiten und von verschiedenen Händen geschaffen sind. Der Schluß ist bündig. Es ist dieselbe Methode, durch die man den antiken Homer-Bios als unhistorisch erweisen kann und erwiesen hat; auch er hängt sich wie ein Schlinggewächs an den Stamm merkwürdiger alter Dichtungen aus verschiedenen Kreisen und Zeiten — wenn der Stamm zusammenbricht, fällt auch das üppige Geranke der Biographie mit zusammen. Und auch die Persön- lichkeitcn fallen mit. Greifbares, Individuelles behalten wir weder im einen noch im anderen Falle.
„Und bleibt also dies Buch eines unbekandten und unbenantcn Meisters." Dies Wort Luthers sThiele Seite 2) gilt noch heute vom Aesoproman wie von den Aesopea und wohl auch von Ilias und Odyssee. Die Lutherische Formel „Aesop ein Gedicht" taucht im- mer wieder auf bei Cameraruis, Heumann, Neander, Giambattista Vico, F. G. Welcker. Wir wissen jetzt, daß die hellenische Novellistik selbst so geschichtlich mas- sive Persönlichkeiten wie Solon und 'Periander zum Gedicht verflüchtigt hat: auch in diesem Sinne behält Luther recht.—Sicht man diese kühnen literarisch-kriti- schen Vorstöße, kommt einem wohl die Frage in den Sinn, auf welcher Seite der theologischen Wissenschaft Luther stehen würde, wcnii er heute lebte. Ich meine, die Antwort kann nicht zweifelhaft sein.
Streikzüge durch Kolumbien.
I. B o g o t ä.
Von MaxFrhrn. v. Wendland (Bernried).
Als ich Mitte März 1907 aus dem heißen Tropengürtel des Magdalenenstromcs in die 2635 Meter hoch gelegene südamerikanische Metropole Bogota, die Hauptstadt Kolumbiens, kam, war ich von vielen Er- scheinungen dort überrascht. Auffallend war mir na- t mentlich der große Temperatur-Unterschied. Die' Jahrestemperatur beträgt bei der 4 0 36' nördlich vom Aequator liegenden Stadt nur 15° im Mittel; in Honda am Magdalena hatte ich dagegen drei Tage vor- her schon um 9 Uhr Vormittags 30 0 im Schatten gemessen. Ebenso auffallend war die (durch die Höhenlage bedingte) dünne Luft und der bei gerade ein- setzender Negenzeit wie mit einer Nebelschicht überzogene Himmel.
Im Osten lehnt sich Bogota an die hochaufragende Cordillera Oriental an. Terrassenförmig, zum Teil steil ansteigend, baut sich die Stadt in ihrem östlichsten Teile, in dem die kleinen Hütten der ärmeren Bevölkerung stehen, auf den unteren Hängen eines Berges
auf, der sich zu dem Doppclgipfel von Montserrate und Guadalupe (3200 in) erhebt. Beide Gipfel sind mit großen, weißgetünchten, weithin leuchtenden Kapellen bekrönt. Von diesem Berge kommen die beiden in der Regenzeit äußerst wasserreichen Flüßchen San Fran- cisco und San Agostin herab, die Bogota von Osten nach Westen durchströmen. Auch der Chorro, eine starke Quelle, die das Trinkwasser für die Stadt liefert, entspringt aus einem Felsen dieses Berges.
Im Westen wird Bogota halbkreisförmig von einer über 24,000 da großen Hochebene, der Labana 6« Bogota, umgrenzt. Am weitesten dehnt sich diese Savanne in südlicher und besonders nördlicher Rich- tung aus. Gegen Osten erscheint sie durch die Hauptkette der Cordillera Oriental, welche hier der Kreide- formation angehört, scharf abgegrenzt. Durchflossen wird die Hochebene von Norden nach Süden vom Funza oder Bogotafluß, der dort, wo er sie verläßt, den berühmten 480 Fuß hohen Fall von Tequendama bildet.
Einst besaß die Sabana von Bogota, als Mittelpunkt des mächtigen Jndianerreiches der Chibchas, eine sehr dichte Bevölkerung. Doch diese nahm ab, als sie 1537 Gonzalo Iimenez de Ouesada der spanifchen Herrschaft unterwarf und alsbald zur Gründung einer Stadt, der heutigen Hauptstadt, fchritt. Im August des folgenden Jahres bereits verlieh Kaiser Karl V. der Ncugründung ein eigenes Stadtwappen: ein schwarzer Adler im goldenen Felde mit einem sich ösf- nenden Granatapfel "in jeder K laue.
Bogota zählt heute über 90,000 Einwohner, besitzt aber, da die Häuser meist nur ebenerdig angelegt sind und sie nur teilweise in neuerer Zeit ein Stockwerk aufgesetzt bekommen, eine im Verhältnis zu seiner Be- völkerungszahl sehr große Ausdehnung.
Der größte öffentliche Platz in Bogota ist der von Bolivar. In dessen Mitte steht, von einem kleinen Ziergarten umgeben, eine aus Bronze gefertigte Reiterstatue des Befreiers Simon Bolivar, die 1846 ein Bürger seiner Vaterstadt schenkte. Gegen Osten wird der riesige Platz von der Kathedrale, einem erst 1829 vollendeten Prachtbau, eingenommen. In ihr liegen auch die Gebeine Quesadas, des Eroberers von Neugranäda. An die Kathedrale schließt sich die „BI Lagrario" genannten Pfarrkirche an, während gegen Süden die ganze Breite des Platzes ein ur- sprünglich zum Nationalpalast bestimmtes groß ange- legtes Gebäude einnimmt, „LI Capitolio“, das jedoch infolge der zahlreichen Revolutionen nie zum Abschluß gelangte. Seinen mächtigen Säulcnschaften, welche zwischen den beiden notdürftig vollendeten Flügeln auf- ragen, fehlen noch heute die Architrave. Dadurch wäre ihr vorzeitiger Verfall zu befürchten gewesen, hätte nicht, während meines dortigen Aufenthaltes, die Regierung beschlossen, dagegen entsprechende Vorkehrungen zu treffen. In oen Seitenflügeln sind das Ministerium des Unterrichts, das Kriegsministerium und das Archiv untergebracht. Die zwei anderen Seiten des Platzes werden von Privathäusern einge- nommen, welche aber wegen ihrer teilwcisen Unan- sehnlichkeit und unregelmäßigen Bauart den Gesamteindruck stören.