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Sie. lls Beilage der Münchner

Zwecken angepaßten Bearbeitung. Ein Konzept, das Luther auf der Jveftc Kobnrg angefertiqt haben mag, fand R. Rcitzenstein vor mehr als 20 fahren wieder auf, seltsamerweise in der Vaticana zu Rom. (oock. Ot-tobon. lat. 3029); Doppelsassungen und Varianten zeigen, mit wie hohem künstlerischem Ernst Luther auch diese bescheidene Aufgabe angegriffen hat. Veröffent­licht wurde der Torjo des Aesopbuches schon in den ersten Gesamtausgaben (1557, 1558). Wenn bei uns noch ein großer Bruchteil des antiken Fabelschatzes als eine Art geistiger Scheidemünze in Umlauf geblieben ist, so ist Luthers Vorgang und sein bestimmender Einfluß ans die Schule dabei mit im Spiel.

Dem Text hat Luthereine schöne Vorrede, von rechten! Nutz und Brauch desselben Buches" vorange­schickt. Auch hier spricht vor allem der Volkserzicher, der lehren will,wie man stch im Haushalten, in und gegen der Oberkeit und Unterthanen schicken sol, ansf das man klüglich und friedlich unter den bösen Leuten in der falschen, argen Welt leben möge". Aber mit dem Scharfblick des Genies erkennt Luther ganz beiläufig ein großes loisscnschaftliches Problem die merkwür­dige Stelle mag hier im Wortlaut mitgeteilt werden, zumal weder der neueste Herausgeber Ernst Thiele (Luthers Fabeln, Hallische Neudrucke 1888) noch sonst ein moderner Gelehrter ihre Bedeutung erkannt und ins rechte Licht gerückt zu haben scheint:

Das mans aber dem Esopo zuschreibet, ist meins achtens ein Geticht, und villeicht nie kein Mensch au ff Erden, Esopns geheissen, Sondern, ich halte, es sey etlva, durch vieler weiser Leute zuthun, mit dcrZeit Stück nach Stück zuhau ffen bracht, und endlich etwa durch einen Geirrten, iil solche Ordnung gestelt, Wie jetzt in Deudscher Sprach etliche möchten, die Fabel und Sprüche, so bey uns im brauch sind, samlen, und darnach jemand ordentlich in ein Buch fassen, Denn solche feine Fabeln in diesem Buch vermocht jtzt alle Welt nicht, schweig denn ein Mensch, erfinden. Drumb ist glaublicher, das etliche dieser Fabeln fast alt, et­liche noch eit er, etliche aber new ge­wesen find, zu der Zeit, da dis Büchlein gesamlet ist, wie denn solcheFabeln pflegen, von jar zu jar zu wachssen, und zu niehren, Darnach einer von seinen Börfaren und Eltern höret und samlet"*)

So lautet der zweite Absatz der praefatio in Aesopum, die Luther am 6. November 1538 seinem Schüler Lauterbach vorlas (Thiele S. XIII). Er muß sie schon für etwas Bedeutsames gehalten haben.. Und in der Tat sprechen die ausgehobenen Sätze toahrhaft revolutionäre Gedanken aus, mit einer Schärfe und Klarheit, die in jener Zeit wohl unerhört ist.

Man überlege. Luther findet ein abgeschlossenes Buch unter dem Namen Aesop vor: Er gewinnt die Ueberzeugung, daß dies Buch nicht einheitlich ist, son­

*) Die Örtbögraphie und vor «Hem die Interpunktion glaubte ich beibehalten zu sollen. Tic Leser werden slib leicht davon über, zeugen, dah die Zeichcnsevung nicbt, wie bei uns, lediglich der logisch-grammatischen Gliederung dient, sondern!, nach dem Vor- gang der tllten, derVbrasierung" beim Vertrag. Stilmeisier, wie Schopenhauer, haben die Bedeutung dieses Gesichtspunktes höher eingsschatzt als die Verkalier unserer Kchutregelbücher,

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dern daß in ihm verschiedene Stücke, ursprüngliche, ältere und neuere zu scheiden sind. Das Prinzip der modernen Homer- und Bibelkritik ist hier vorweg- gcnommen.

Aber noch mehr: Er spricht klipp und klar die Mci- nnng aus, daß ein allgemein als geschichtliche Größe gelteildcr Dichter vielleicht nie ans Erden gelebt habe lind daß die Rolle, die er dabei spielt, ein Gedicht sei. NichiS anderes lehrte die moderneKritik" nach Wolf von der Persönlichkeit Homers; nichts anderes lehrte F. G. Welcker von Aesop. Seinen großen Vorgänger scheint Welcker aber mir indirekt gekannt zu haben, sonst würde ein Hinweis auf diese monumentalen Sätze in dem schonen AussatzAesop eine Fabel" (Welcker, kl. Schr. 11) nicht fehlen.

Wie. ist Luther zn diesen überraschenden, seitlcr Zeit weit voranseilenden Ansichten gekommen? Kenner Luthers und seiner Umgebung werden diese Frage Hof- fentlich einmal gründlicher behandeln und beantwor­ten. Die wichtigsten Richtpunkte gibt uns Luther selbst in seinem Fabelbüchlein.

Luther hatte bei Quintilian, demgroßen, scharfsen Meister über Bücher zu urteilen" (V 11, 19), gelesen, daßder allergelehrtesten einer in griechischer Sprache als Hesiodns und desgleichen dieses Buches Meister sei".

Die Quintilianstelle, die übrigens Luther nicht ge­nau wiedergegeben hat, war langst bekannt, Aber während die Durchschnittsleser stumpf daran vorüber- gingen, wurde sie für Luther die Grundlage eines küh­nen Gedankenbanes, wohl der ersten literarhistorisch- kritischen Hypothese, die ein deutscher Kopf ersann. Hier tjriff Luthers persönliche Erfahrung ein. Er kannte solche Fabeln und Märlein, die man von seinen Vorfahren und Eltern hört:Ich möchte mich der wundersamen Historien, so ich aus zarter Kindheit herübcrgenommen, nicht cntschlagen uni kein Gold" heißt es in einer seiner Tischreden, auf die Griinm in den Anmerkungen zu seinem Märchenbuche hinge- wiesen hat. Nun sah Luther mit eigenen Augen, wie man Schwänke, Schnurren und Sprüche aus ober- und niederdeutscher Ueberlieferung aufgriff und literarisch zusammenfaßte; es sei nur an H. Bebel und Desiderius Erasmus erinnert. Die Antike wie die Bibel ist ihin nichts Totes und Fernes; er setzt sie in Beziehung zum eigenen Leben, gewinnt Analogien aus der eigenen Erfahrung; so wittert er glücklich die innere Verwandt­schaft jener griechischen Märlein mit den deutschen und befestigt sich in der Ueberzeugung, daß die Aesopea nicht ein Mensch" erfunden habe, sondern daß sic von Iar zu Jar weiter gewachsen seien und sich ge- niehrt hätten." Es ist eine Betrachtungsweise, die erst mit Herder und Grimm sich ihren Platz in der Wissen­schaft endgültig erkämpft hat. Man wird sagen dürfen, Luther war es, der die Bedeutung der mündlichen Ueberlieferung, wie die Möglichkeit desWeiter­wachsens" dichterischer Erzeugnisse zuerst ebenso klar erkannte wie aussprach.

Wenden wir uns min zu der kühnen Krönung des Hypothesenbaues. Wie kam Luther dazu, die Persön­lichkeit Aesvps als eineSichtung" ausziilvseii? Auch

hier das Jneinandergreisen gelehrter Kenntnisse uns