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Beilage der Münchner Neuesten Nachrichten
Nr. US
führten Bauten der Hospitaliter in jener leichten, zierlich aufstrebenden Gotik gehalten, als deren Schöpfer der Meister des Florentiner Domes bewundert wird. Sie wurde auch beibehalten, zugleich aber im Einklang -mit dem Formensinn der inzwischen erblühten Renaissance namentlich in Bezug auf die Ornamentik weitergebildet bei den großen Restaurationsbauten, durch die Meister Pierre d'Aubusson nach der Belagerung von 1480 und dem deren Zerstörungswerk vollendenden Erdbeben von 1481 die Ordensstadt neu erstehen ließ. Aber der kunstsinnige Meister hielt sich damals schon nicht mehr allem an die toskanischen Künstler. Vielmehr wurden die damals weichin berühmten Gobelins mit figurenreichen Darstellungen aus der Geschichte des Ordens, darunter solchen von der sagenhaften Einnahme von Rhodos durch eine glückliche Kriegslist und von dem Drachenkampfe des Dieudonnö de Gozon, welche die Residenz des Meisters schmückten, angefertigt nach Entwürfen des Quintin Matshes von Antwerpen (1466—1530), 1S ) der darin demnach sein bedeutendstes Jugendwerk geschaffen haben dürfte.
Erhalten freilich ist von alledem nichts. Wohl aber sendet so noch inr Sinken die Sonne der Renaissance gleichsam als Abschiedsgruß einen letzten leuchtenden Strahl hinüber nach dem äußersten Vorposten der abendländischen Kultur an der Schwelle des Orients, von dem auch ihr einst der zündende Funke gekommen war, und läßt ihn noch einmal in wunderbar goldigem Glanze erscheinen, ehe die hereinbrechende Nacht der Barbarei ihren ertötenden Schatten darüber breitet. Mahnt das ergreifend an die Hinfälligkeit auch der höchsten menschlichen Kunstgebilde, so bezeugt es doch zugleich auch tröstend die Ünvergänglichkcit alles dessen, was im Entstehen einen wirklichen Fortschritt und damit einen bleibenden Gewinn für die Kultur der Menschheit bedeutet hatte.
~«) Ebenda S. 301.
Eine literarhistorische Entdeckung Martin LutherS.
Von Otto Crusius (München).
Die Humanistenzeit weiß wenig von literargcschicht- licher Kritik. Ansätze finden sich wohl bei Petrarca und vor allem bei Lorenzo Valla. Aber Lorenzos Angriff auf den Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus und die konstantinische Schenkung blieb doch eine Episode; hier (wie bei Petrarca in einem ähnlichen Fall) hatte das kirchenpolitische Interesse den Blick geschärft. Man braucht nur Scaligers Poetik oder die Sammelwerke von Lilius Gyraldus und Eaelius Rhodiginus aufzuschlagen, um sich zu überzeugen, daß man m diesen Dingen über die Harmlosigkeit des Mittelalters doch nicht wesentlich hinansgekommen war.
Mehr als zweihundert Jahre dauert dieser Dämmerzustand, bis es an der Schwelle des Zeitalters der Aufklärung Tag wird. Richard Bentley schafft die exakten Methoden; er weist nach, daß ein großer Teil der griechischen Bricsliteratur und vor allem die Aesopischen Fabeln nicht von den Persönlichkeiten her- rühren können« denen sie die Ueberlieferung zu
schreibt. Die Jahre, in denen seine Dissertations on the epistles of Phalaris ... and the fables of Aesop erschienen (1697—1699) bezeichnen eine Epoche in der Entwicklung der Philologie und der Geschichtswissen, schaft überhaupt.
Lange vor dem Philologen Bentley und seinen Zunft- genossen hatte ein Größerer, M a r t i n L u t h e r, den Aesopischen Fabeln seine Teilnahme und Arbeit zugewandt. Rein gelehrte Ziele faßte Luther hier ebenso- wenig ins Auge wie bei der Bibelübersetzung. Während des Reichstages m Augsburg, 1530, förderte er auf der Feste Koburg nebeneinander die Uebersetzung der Propheten, des Psalters und des Aesop. Perve- nimus tandern in nostriun Sinai, schreibt er an Me- lanchthon, sed faciemus Sion ex ista Sinai, aedifi- eabimusque ibi tria tabernacula, Psalterio unum, Prophetis unum et Aesopo unum. Drei Tabernakel will er in seinem Sion bauen, einen für den Psalter, einen für die Propheten, einen für — Aesop. Er hielt auf das „Gemeine Kinderbuch so Esopus heißt", große Stücke; man könne, meinte er, „kein fei- ireres Buch in weltlicher heidnischer Weisheit machen". Wie ihm diese alten Stoffe geläufig waren, das zeigen zahlreiche Stellen ans seinen Schriften und Tischreden, die (schwerlich vollständig) Karl Goedeke (Luthers Dichtungen, Deutsche Dichter des 16. Jahrhunderts, Band XVIII 162 ff. 177 ff.) gesammelt hat. Manches wirkt iit der derb-anschaulichen Vortragsart Luthers völlig wie ein Original; aber es ist doch keine leere Floskel, Ivenn sich Luther immer wieder auf „die alten Dichter und Weiseit" bezieht: überall wo ich nachgeprüft habe, fand sich schließlich eine Vorlage. E. Thiele meint freilich, Luther habe sich auch „selbständig" als Fabeldichter versucht. Allein gerade die Geschichte vom Krebs und der Schlange, die Luther seinem Söhnlein Johannes wie eine Improvisation behaglich breit ausführte und für die Thiele (Luthers Fabeln S. X) einen Beleg vermißt, ist im Orient und Okzident verbreitet, sie wird schon ui einem alten griechischen Skolion (Athenaeus XV 645 A) vorausgesetzt:
„Grabaus soll mein Genoffe gehn, nicht sich krümmen und winden." So sprach der Krebs — da hielt
er die Schlange zwischen den Scheren, und taucht nicht nur in den Aesopea (346 II.), sondern mit leichter Ilmwandlung selbst bei den Kürinen in Daghstan auf (Schiefner, Memoires de l’aead. de St. Petersbourg 1873 XX 2 S. 90, von Liebrecht Zur Volkskunde S. 123 nicht richtig beurteilt).
Die Frage nach den Quellen, aus denen Luther solche Stoffe zuflossen, bleibt in manchen Fällen noch offen. Nach dem oben mitgeteilten Zeugnis hat er vor allem einen deutschen Aesop, wohl in "der Bearbeitung von Steinhöwel und Brant, benützt. Gegen dies Volks- tümliche deutsche Fabelbuch äußert er schwere Be- denken; er fand da aus der Schwank- und Facetien- literatur „schreckliche Bubenstücke" eingefügt, „die eher in ein gemein Frauenhaus paßten". So faßte er den Plan, eine Art Gegenstück zu seiner deutschen Bibel, einen deutschen Aesop herauszugeben; die seltsame, in ihrem Kern ans ein antikes Volksbuch zurückgehende „Lebensbeschreibung" Aesops und eine Auswahl von Fabeln in einer freien, feinen sittlich praktischen