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IV. Wissenschaftliche Sitzung der Sencken- bergischen NaLttrforschende» Gesellschaft.

. Frankfurt a. M., den 24. November 1906.

Vorsitzender: Dr. phil. A. Jassoy.

Professor Dr. M. Möbius spricht:

Ueber den Stammbaum des Pflanzenreiches."

Seitdem die Abstammung der Organismen von ein-, ander als Tatsache anerkannt ist, sucht man das System, in dem man die Tiere und Pflanzen anoodnet, so zu ge-

> galten, daß es diese Abstammung erkennen läßt, also dem l Stammbaum entspricht. Zu dessen Rekonstruktion bieten ^eigentlich die paläontologischen Reste die einzig sichere

> Grundlage, da diese aber nicht nur lückenhaft, sondern viel- s stach auch von unsicherer Bestimmbarkeit sind, so müssen

^tvir uns hauptsächlich auf die vergleichende Morphologie stiutzen, also in derselben Weise verfahren wie alle, auch l die ersten Systematiker, die ein sogen, natürliches Syst/m ! aufzustellen versuchten. Wenn wir dabei auf den Anfang i des Stammbaumes zurückgchen wollen, so kommen wir zu I den einfachsten einzelligen Organismen, von denen das k Pflanzenreich wie das Tierreich einen gemeinsamen Ur- I sprung genommen hat: wir sehen sie verkörpert in den I niedersten Flagellaten, an die sich höhere Formen dieser [ Gruppe anschließen. Von ihnen gehen zunächst mehrere kleine Reihen aus, die sich nicht weiter fortgebildet haben, wie die Kieselalgen, Schleimpilze u. a., dann aber auch die Volvocaceen, kleine, grüne, bewegliche Algen, aus denen sich die grünen einzelligen Algen und die grünen Fadenalgen entwickelt haben. Diese dürfen wir als die sich nach oben in die höheren Pflanzen fortfetzende Reihe betrachten, während von ihnen seitlich abzweigen einerseits die braunen und roten Meertange, andererseits durch Vermittlung der Schlauchalgen (Siphoneen) die Pilze und Flechten. An ge- I wisse grüne Algen dürften sich die einfachsten Lebermoose I anschließen, von denen die höheren Lebermoose und die I Laubmoose abgeleitet werden können, letztere auch einen 8 selöstäicksig sich hoch entwickelnden Zweig repräsentierend. I Gewisse Lebermoose bilden einen Uobergang zu den Ge- I säßkryptogameu. Sie waren bekanntlich in der Vorzeit viel »stärker und reicher entwickelt als setzt, und wir kennen s unter den versteinerten Formen Familien, die jetzt ausge- »storben, aber als Uebergangsglieder und Ergänzungen ssystematisch sehr werwoll sind. Außerdem haben aber die ! entwicklungsgeschichtkichen Untersuchungen Hofmeisters schon vor Darwin den Zusammenhang zwischen Moosen, f Gesäßkryptogamen und Phanerogamen aufs klarste ge- I zeigt und gewisse Entdeckungen der letzten Jahre haben ihn . auffallend bestätigt. Trotzdem bleiben die Einzelheiten vielfach noch zweifelhaft. Man leitet von den Formen selbst durch Vermittlung einer ausgeftorbenen Gruppe die Cycadeen ab und von den Bärlappen in analoger Weise die Koniferen, während die Schachtelhalme in den aus- gestovbcnen Kalamarien ihre höchste Entwicklung erreicht haben. Von den Koniferen sind die Gnctaceen und Diko­tylen abzuleiten, wenn nicht vielleicht die letzteren von erfteren abstammen. Als ziemlich sicher nimmt man jetzt an, daß die Monokotylen erst nach den Dikotylen entstanden -sind, sich also aus ihnen, wenn auch sehr frühzeitig, ent- wickelt haben. Auf die Phylogenie der Familien innerhalb dieser großen Gruppen kann nicht eingcgangen werden. Es läßt sich nur etwa sagen, welche Formen als die ein­fachsten und ältesten anzuschen sind und welche an däs Ende der beiden Reihen gcsiellt werden.

Der Vortragende erläutert seine interessanten Ausfüh­rungen durch mehrere Tabellen, die erwähnten Pflanzen darstellende Wandtafeln, einige natürliche Pflanzen und mikroskopische Präparate. Er schließt mit der Betrach­tung, kwß wir in der phylogenetischen Entwickelung des Tier- und Pflanzenreiches eine Entwickelung vom Niederen znm Höheren, vom Einfacheren zum Komplizierteren nach uns unbekannten Gesetzen vor uns haben, die der Entwick- lung der einzelnen Organismus analog ist, daß die Dar- winsche Selektionstheorie keine Erklärung ftir die Eiit- stehung der Arten ist, und daß die Anpassungstheorie nur ün gewissem Grade uns verständlich macht, warum so verschiedenartige Organismen entstanden sind. Dev Srammbanm ist in feinen Einzelheiten für uns noa, ein Rätsel, an dessen Auflösung noch lange zu arbeiten sein

wird.

V. Wissenschaftliche Sktzuirg der Sencken- bergifcherr Nairrrforscherrden Gesellschaft.

Frankfurt a. M., den 30. November 1906.

Vorsitzender: Dr. phil. A. Jassoy.

Dr. F. Römer hält vor den zahlreich erschienenen Zuhörern den mit lebhaftem Beifall aufgenommenen Vortrag über: !

Die Abnahme der Tierarten mit der Zunahme der

geographischen Breite." >

Der Vortragende bespricht zunächst die eigenartige Säugetierfaima der arktischen Gebiete, die zur Unter- scheidung einer besonderen arktischen Subregion innerhalb des großen Palacarktischen Reiches Veranlassung gegeben hat und erörtert dann die Fragen, welche Tiere unserer einheimischen Fauna bis in diese Region eindringen, wie weit nördlich sie Vorkommen und welche Bedingungen ihr Vordringen begrenzen.

Von den Fledermäusen, die ihre eigentliche Heimat im wärmeren Süden höben, finden wir mehrere Arten noch nördlich des 60.°. Eine Art geht in Lapp­land sogar bis zum 70.°. Die Flödermäuse sind Insekten­fresser mit Winterschlaf. An Nahrung fehlt es ihnen in, den seenreichen Gebieten Finnlands und Lapplands nicht, doch hindert der lange Winter ein weiteres Ausdehnen wach Norden.

Für die Insektenfresser, Maulwurf, Igel und Spitzmäuse, sind dieselben Hiriderungsgründe in der Ver- breitung maßgebend wie für die Fledermäuse, auch diese Tiere Müßten im höchsten Novden zulange Zeit im Win­terschlaf verbringen und können deshalb ihr Verbreitungs-' ge&kt nicht soweit nach Norden auÄuchnen, als eigentliche Jnsektennahrung für sie vorhanden ist. Der Maulwurf, der für das ganze Gebiet nördlich der Alpen charakteristisch ist und im Gebirge bis zur Grenze des Ackerbaues geht, hat sich iu Norwegen und Finlaud bis zum 62. Breite­grad ausgebreitet, auf den britischen Inseln bis Nord- schottlaud. Er fehlt dagegen aus Irland. Der europäische Igel, den man iu den Alpen noch in 2000 Meter Höhe antrifst, geht in Nordeuropa etwa bis zur Baumgrenze. Die empfindlicheren Spitzmäuse erreichen ihre Norvgrenze schon in lÄwlnnd und den Ostseeländern, scheinen aber in .Skandinavien zu fehlen.

Weniger eng sind die Nahrungsgrenzen, die den Raub­tieren gezogen sind. Im großen Vogelreichtum der arktischen Länder ist ihnen ja reichlich Nahrung gegeben. 'Die Marder, die schon zur Tertiärzeit austreten und jetzt alle Weltteile mit Ausnahme vo-n Australien bewohnen, ksüid nicht nur bis zum ärißersten Norden Europas vorge- Immgen, sondern finden sich mit fast allen unseren Arten dort zahlreich. Fiuland allein hat 6 echte Marderarten/ die fast alle nach Lappland hineingehm. Für den Dachs.

,«scheint der 66. Breitegrad die Grenze zu sein; die von Fischen sich nährende Fischotter hat aber die Eismeerküste erreicht. Die merkwürdigste Verbreitung haben unter den Raubtieren das Hermelin und der Wolf. Das Her­melin, das in den Alpen selbst an den Gletschern noch hauest - findet nian auf allen nordamerikanischen Polar­inseln, in Grinelland bis über den 80.° und sogar im' Norden und Osten von Grönland. Der Wok» der in -ganz Europa heimisch und nur in den bevölkerten Gegen­den ausgerottet ist, folgt den Rentieren im ganzen kalten Norden bis jenseits der Baumgrenze und aus den arkti­schen Inseln sogar bis nach Grönland.

Bon den N a g e t i c r e n ist das Eichhörnchen den Lapp­ländern ebenso bekannt, wir den Griechen und Spaniern. Sein Verbreitungsgrad reicht in Europa sogar über die Waldgrenze hinaus bis zur Eismeerküste. Unser Hase geht nicht über Schottland und Südschwedon hinaus. Die arktischen Länder haben aber noch den besonderen Schnee­hasen, der auch die Alpen und Pyrenäen bewohnt. Wie die Besiedelung eines Gebietes erfolgen kann, dafür sind die Hamster, die Ratten und die Mäuse treffliche Bei­spiele. Der Hamster ist aus den Steppengebieten Asiens, i wo er sehr zahlreiche Jamilienglieder hat, gekommen und !hat sich Deutschlands bemächti-gt. Er fehlt aber noch in 1 Ost- und Westpreußen und Südwestdeutschland. Das RheintÄ hat er erst an wenigen Stellen überschritten und in Belgien ist sein Vordringen aus das linke Maasufer erst in den 90er Jahren konstatiert worden. In Frank­reich, England und Skandinavien ist der Hamster nvch ! altbekannt.