frankfurter Nachrichten, Sonntag dm 22. November 1903
TV. Wissenschaftliche Sitzung der Sentker,verarschen Natursorschenden Gesellschaft.
Frankfurt a. M., 21. November 1903.
Vorsitzender: Dr. med. E. Roediger.
Dr. I. R ö m e r spricht über:
»Die Anpassung Der Wale an das Leben in» Wasser"»
Es gibt wohl kaum eine.Tiergruppe, über die so viel Falsches und Fabelhaftes berichtet und geschrieben morden ist, wie über die Wale oder, wie sie in den zoologischen Büchern meist noch heißen, „Walfische".
Zunächst ist schon der Name „Walfische" gänzlich falsch, denn mit Fischen haben die Wale nichts zu tun, es sind vielmehr echte Säugetiere, daher hat man in der neueren Literatur auch diesen unpassenden Namen durch W a l t i e r e oder kurzweg Wale ersetzt. Schon auf den ersten Blick ergibt sich bei den Walen eine große Abwei- , chung der äußeren Gestalt gegenüber den landbewohnenden Säugetieren. Die Merkmale, welche ein Säugetier als solches charakterisieren — das Haarkleid, die äußeren Ohren, die Einteilung des Körpers in Kopf, Hals, Rumpf -und Schwanz, die zwei Paar Gliedmaßen, sowie das Gebären von lebendigen Jungen, welche von der Mutter gesäugt werden, — sind bei den Walen scheinbar gar nicht vorhanden oder nur schwer zu beobachten. Ihr Körper hat eine spindelförmige, sischähnliche Gestalt, ein abgesetzter Hals fehlt, der Kopf geht allmählich in den Rumpf und dieser wieder ebenso unmerklich in den Schwanz über; von den Gliedmaßen fehlen die hinteren Gliedmaßen vollständig, während die Vorderbeine zu Flossen umgewandelt sind, die ' Haut ist gänzlich haarlos und äußere Ohrmuscheln sind auch nicht da.
Das Wasserleben hat ihre äußere Gestalt, sowie auch die inneren Organe mächtig beeinflußt und abgeändert, daher; auch das späte Erkennen ihrer wahren Säugetiernatur und ihrer richtigen Stellung im System der Wirbeltiere.
Die Umänderungen, welche die einzelnen Organe durch den Einfluß des Masserlebens erlitten haben, wurden im einzelnen näher besprochen. Redner gab in seinem Vortrag eine Zusanimenfassung der neueren Walarbeiten, welche von Professor W. Kükenthal und seinen Schülern in den legten zehn Jahren geleistet worden sind. Professor Kükenthal hat auf seinen beiden Reisen im nördlichen Eismeer in den Jahren 1886 und 1889 ein großes und seltenes Material an Walorganen und Walembryonen gesammelt und an demselben die einzelnen Teile des Walkörpers bearbeitet oder von seinen Schülern bearbeiten lassen. Sodann hatte der Vortragende selbst auch Gelegenheit, an den norwegischen Walstationen die Verarbeitung der Wale mitzumachen und durch Sektionen an Rieseuwalen den Bau des Walkörpers aus eigener Anschauung kennen zu lernen. ,
Zunächst wurde die Frage erörtert, ob die Wale über-, Haupt von landlebenden Säugetieren abstammen oder vom Beginne ihrer Existenz an wasserlebend gewesen sind. Es> hat bis in die neuere Zeit hinein Forscher gegeben, welche die Wale von ausgestorbenen, wasserlebeiiden Reptilien,!
Ichthyosauriern, ableiten wollten, mit denen sie viele lieber, einstimmungen im Körperbau zeigen. Die neueren Arbei- !eti stimmen aber alle darin überein, daß diese Aehnlich- keiten, welche alle wasserbewohnenden höheren Wirbeltiere,' Ichthyosaurier, Seehunde, Sirenen und Wale scheinbau mit einander verknüpfen, nur konvergente Bildungen sind, welche durch Anpassung verschiedener Tiere an die gleiche aquatile Lebensweise entstanden sind. Es sind also diese Aehnlichkeiten keine Merkmale der Verwandtschaft, sondern Resultate der gleichen Funktion der Organe. Die. selben Gesetze haben die Organe verschiedener Tiere des der Anpassung an gleichartige Lebensbedingungen be- herrscht, Gesetze, die sich teilweise sogar auf die Prinzipien üer Mechanik zurückführen lassen.
Die Vorfahren der Wale wie aller wasserlebenden Säuge« tiere sind unter landlebenden Säugetieren zu suchen, ivofür sich bei der Besprechung der einzelnen Organe genügend Beweise ergaben.
Aber auch die Gruppe der Wale selbst bietet noch das schönste Beispiel für Konvergenzerscheinungen. Die als Waltiere vereinigten Sirenen, Zahnwale und Bartenwal
weisen in der Entwicklung ihrer Organe so viele Unterschiede auf, daß man für alle 3 Gruppen auf einen verschiedenen Ursprung schließen und sie in 3 stammesgeschichtlich nicht verwandte Ordnungen trennen muß.
Die Paläontologie weist hier leider große Lücken auf, so daß keine fossilen Tiere zwischen den heutigen Walen und ihren landlebenden Vorfahren vermitteln. Ueber ihren Ursprung können wir daher nur Dernmtungen aufstellen/ Doch macht uns die Vergleichung der übrigen wasserleben-den Säugetiere, welche in den verschiedenen Ordnungen Vorkommen, den Weg, welchen ein typisches Landtier bei den: Uebergangi zum wasserlebenden Wal durchlaufen haben muß, verständlich. Diese Wassersäuger sind nicht mit einander verwandt; chr Körperbau zeigt aber verschiedene Grade der Umformung je nach der Länge der Zeit, seit welcher sie den neuen Aufenthaltsort gewählt haben. Bei der Wasserratte, Wasserspitzmaus und Nilpferd finden wir nur geringe Schwimmhäute zwischen den Zehen, beim Bieber und Schnabeltier ist dazu noch ein breiter Ruderschwanz entwickelt. Die Veränderungen sind bei allen diesen Tieren aber noch gering/ so daß sie sich noch nahe an landlebende Formen anschließen. Größer sind die Umformungen im Bau der Seehunde, die ja auch eine eigene Ordnung im System der Säugetiere bilden, wenn sie sich auch noch eng an die Raubtiere angliedern lassen; noch großer bei den von Huftieren abstammenden Sirenen, am stärksten bei dm Walen, welche sich zu keiner Ordnung der jetzt lebenden Säugetiere in Beziehung bringen lassen. Daß die Wale von landlebenden Säugern abstamnstn, ergibt sich allein schon aus der Vergleichung der-Körperform des erwachsenen Tieres mit den kleinen Embryonen, die noch ganz nach dem Typus der Landsäugetiere gebaut sind. Der dicke Kopf ist scharf abgesetzt, steht in einem Winkel zum Rumpf, der spig auslaufeirde Schwanz ist eingebogen und bei den kleinsten Walenibryonen, welche wir kennen, von 1,7 und 2,5 Zentimeter Länge, findet sich sogar noch die Anlage eines äußerenj Ohres und der hinteren Extremitäten, während diese beim erwachsenen Tier völlig fehlen und nur noch Knochenreste und die Anordnung der Muskulatur auf ihr ehemaliges Vorhandensein Hinweisen.
Der Uebergang der Gliedmaßen eines Landtieres in dis eines wässerbewohnenden Wales läßt sich durch Vergleichung der einzelnen Wassersäuger ebenfalls' verstehen. .Die ' Ohrenrobben leben viel auf dem Lande, ihre Hinteren Extremitäten sind daher noch zum Gehen eingerichtet. uird haben eine Stellung ähnlich den Beinen der Landtiere; im Wasser benutzen sie beide Paare zum Schwimmen. Die Seehunde gehen weit weniger ans Land, ihre Hintergliedmaßen sind nach hinten gerichtet, viel mehr zum Schwimmen als zum Gehen eingerichtet, die Vordergliedmaßen dienen zum Balancieren und Wenden- Bei den Walen, die ausschließ« lich im Wasser leben, ist das neue Bewegungsprinzip anx weitesten fortgeschritten, die bewegende Kraft wurde ganz ans Hinterende verlegt und die verbreiterte Schwanzfloss ei ist das einzige Bewegungsorgan geworden- Die Hinter« gliedmaßen schwanden, weil überflüssig, die Vordergliedmaßen übernahmen die Steuerfunktion. Die horizontal gestellte Schwanzflosse der Wale ist eine Neuerwerbung,' toclche erst allmählich im Laufe der Stammesgeschichte auf- trai; die kleinsten Embryonen haben einen echten, spitz auslaufenden Säugetierschwanz, an dem erst durch zwei seitliche Falten die slügelartigen Anhänge entstehen. Die Seehunde, Walroß, Ohrenrobben benutzen zur Fortbewegung alle Gliedmaßen, sind also gewissermaßen nach dem Typus der Ruderboote mit zwei Paar Rudern gebaut. Die Schwanzflosse der Wale ist bis zu einem; gewissen Grade mit der Schiffsschraube zu vergleichen, natürlich ohne daß sie die totale Umdrehung hat. Wie nun die Erfindung des Schraubendampfers einen außer« ordentlichen Fortschritt in der Technik des Schiffsbaues bedeutete, so stellt auch die Schivanzflosse der Wale einen großen Fortschritt in den Lokomotionsorganen der im' Wasser lebenden Tiere dar. Indem die bewegende Kräfte an das Hinterende verlegt wurde, konnte eine viel größere und wirksamere Kraft entfaltet werden und die Schnelligkeit der Bewegung Ivuchs damit ungeheuerlich. Die hinteren Extremitäten wurden überflüssig, ja hinderlich für die viel schnellere Schwanzflosse und mußten somit schwinden. Die vorderen Extremitäten übernahmen eine neue Funktion,, nämlich die des Steverns.