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Studien, welche zu einer relativ vollkommenen Erkenntniß dieser Membran geführt haben, bietet ein schönes Bild wahrhaft wissenschaftlicher Thätigkeit, vom ernsten Voranarbeiten und strenger Kritik des Erreichten. Er ist auch lehrreich, nicht allein für die Geschichte der möglichen Jrrthümer auf so weitem Wege, sondern auch dadurch, daß man erkennt, wie jeder Fortschritt bedingt war durch einen Fortschritt in der Untersuchungsmethode. So oft ein solcher Fortschritt gemacht wurde, hat man ihn benutzt und ist in gewissenhafter Arbeit weiter gegangen, so lange auf dem eingeschlagenen Wege etwas zu erreichen war. Jede Methode ist bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit ausgenntzt worden. Aber nie hat das Suchen nach anderen Wegen aufgehört; in immer neue führten d>e betretenen, und Ungeahntes wurde auf dem engen Raum gefunden.
Die ganze Netzhaut ist beim Menschen höchstens 1 lammbxä. Sie schließt sich an die Ausbreitung des Sehnerven im Inneren des Auges an. Seit dem 17. Jahrhundert weiß man, daß das Bild, welches die optischen Medien des Auges erzeugen, auf der Netzhaut selbst entsteht. Kein Geringerer als Kepler hat den rechnerischen Beweis dafür geliefert, wenn auch Pozzi und der Anatom Plater es schon vermuthet hatten.
Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts wurde durch die Untersuchungen des Frankfurters S. Th. Sömmerring. ein gewisser Abschluß in die Lehre von der Netzhaut gebracht; was mit bloßem Auge an ihr zu finden ist, das alles hat S. Th. Sömmerring mustergiltig beschrieben. Da kam Ende der zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts das Mikroskop auf eine Höhe der Vollkommenheit, welche ganz plötzlich allüberall ein neues Vorwärtsarbeiten ermöglichte. Gerade in der Netzhaut war schon Ende des 17. Jahrhunderts durch den Holländer Leuwenhoek ein sehr merkwürdiger Befund erhoben worden. L. hatte beim Frosche sehr feine, zarte dünne Stäbchen in ungeheurer Anzahl aufgefunden. Nun begann ein Nachprüfen und Weiterforschen. Der Redner schilderte, wie diese Stäbchen schon 1834 von Treviranus wiedergefunden wurden, wie über ihre Natur und Lage in der Netzhaut bald ein lebhafter Streit entbrannte, weil man sie Zuerst für die letzten Enden des Sehnerven hielt, wie durch Henle und Remak Nervenfasern, durch Hannover 1840 Ganglienzellen gefunden wurden, nicht unähnlich denen, welche man gerade eben im Gehirn entdeckt hatte. So viele Feinheiten enthüllten sich schon damals in der dünnen Membran; aber noch wußte man nichts über ihre Beziehungen und ihre Lage zu einander. Es hatte zwar 1842 Michaelis entdeckt, daß die Stäbchen die äußerste Schicht der Netzhaut einnehmen, und man wußte, daß am weitesten nach innen die Nervenfasern liegen; aber es blieb doch den wunderbar exakten und gewissenhaften Untersuchungen zahlreicher Forscher im 5. und 6. Jahrzent unseres Jahrhunderts — namentlich Max Schultze und W. Müller — Vorbehalten, den außerordentlich fein gegliederten Bau der lichtaufnehmenden Membran weiter zu ergründen.
An der Hand von Zeichnungen wurde erläutert, wie der Sehnerv sich in einem sehr komplizirten, Ganglienzellreichen nervösen Apparat ausbreitet, und wie auf diesen, weiter außen, ein wunderbar eingerichtetes Sinnesepithel aufgesetzt ist, dessen einzelne Elemente, Stäbchen und Zapfen, wieder besondere Einrichtungen optischer Natur tragen. Ganz Sicheres über die Nerven hat man aber erst durch eine neue Methode erfahren.
Vor wenigen Jahren erst hat Ehrlich gezeigt, daß, wenn man einem lebenden Thier Methylenblau, einen Anilinfarbstoff, in das Blut bringt, sich bei diesem die allerfeinsten Elemente des Nervensystems, und nur diese, blau färben. (Die Verwandtschaft des Methylenblau zum Nervengewebe hat inzwischen dazu geführt, es als Heilmittel gegen Nervenschmerzen, namentlich Ischias zu verwenden.) Erst die Untersuchung der Netzhaut so vergifteter Thiere gab vollen Aufschluß über die allerfeinsten Beziehungen der nervösen Elemente zu einander und zum Sinnesepithel. Was sich hier enthüllte, ist in den letzten Jahren bei Behandlung der Netzhaut mit Silberlösuttg vollauf bestätigt worden.
Aber die Netzhaut ist kein starres Gebilde; trifft sie Licht, so gehen in ihr die mannigfachsten Erscheinungen vor sich. Es wandert das dunkle Pigment, welches sie außen bedeckt, dem Lichte entgegen (Kühne), und es verkürzen sich die Zapfen enorm. Die letztere Erscheinung steht in eigenthümlicher Beziehung zum Gesammtnervensystem (Gen deren-Stört und Engelmann). Die Außentheile der Stäbchen sind durch einen Purpurrothen, im Licht rasch gelb werdenden Farbstoff, Boll's Sehpurpur, gefärbt, und Kühne, dem man die genausten Untersuchungen über diesen Farbstoff verdankt, hat nicht nur gezeigt, wie das Sehroth entsteht und vergeht, sondern es ist ihm sogar gelungen, es zu fixiren und noch nach dem Tode die Bilder der zuletzt gesehenen Gegenstände in der Netzhaut sichtbar zu machen. Ja, immer weiteres hch die fortschreitende Untersuchung ergeben. Holmgren und später Kühne und Steiner haben elektrische Vorgänge nachgewiesen, die durch Licht oder Dunkelheit ihren Ablauf ganz wesentlich ändern.
Die Uebertragung der Lichtwellen auf die Nervenfubstanz ist, wie man sieht, keineswegs ein einfacher Vorgang. Schon nach dem, was wir heute wissen, lassen sich verschiedene Hypothesen für die Lichtempfindung aufstellen, auf die der Vortragende näher einging.
So weit uns also auf dem interessanten Gebiete die vereinte Arbeit Vieler gebracht hat. das Ziel, das anfangs nähe zu liegen schien, ist noch nicht erreicht: Die volle Erkenntniß der beim Sehen sich in der Netzhaut abspielenden Vorgänge.
Aber das lehrt die vorgetragene Geschichte der Netzhaut, daß auch die schwersten Probleme ihrer Lösung näher geführt werden können, wenn gewissenhafte Arbeit beim Erforschen des Tatsächlichen geleitet wird von einem weiten Blick, der auf das Ganze gerichtet ist.
Nach diesem mit vielem Beifall äufgenommenen Vortrage erstattete der zweite Direktor, Herr Dr. med. I. H. Rehn, Bericht über das Jahr 1891—1892, aus dem wir nur hervorheben wollen, daß die Zähl der beitragenden Mit- glieder auf 442 und die der ewigen Mitglieder auf 61 gestiegen ist. Auch zu den arbeitenden Mitgliedern sind zwei neue hinzugekommen. Durch den Tod hat die Gesellschaft den Verlust von 12 Mitgliedern zu beklagen. Im übrigen verlief das Leben innerhalb der Gesellschaft in ungestörter, stetiger Arbeit.
Um 2 Uhr fand im Zoologischen Garten das Festmahl statt, an dem sich über 60 Personen betheiligten, und das durch Trinksprüche und Festlieder in schönster Weise gewürzt wurde. Letztere waren als Rückerinnerung, bis auf eines, nur solche, die bei früheren Festen verfaßt worden waren. Von