Jahresfeier der Serrckerrbergischen Naturforschenden Gesellschaft

am 27. Mai 1906.

Im festlich geschmückten' Vogelsaale. begrüßt der der­zeitige I. Direktor Tr. A. Jassoy die Erschienenen zur letzten Jahresfeier im alten Museum, aus dem die Gesellschaft trotz der Raumenge und Mancher technischen Unvollkommenheiten der Hörsäle, Sammlungs» und Ar­beitsräume begreiflicherweise nur schweren Herzens schei­det. Mag auch in einigen Jahren draußen an der Vik­toria-Allee ein neues, reiches wissenschaftliches Leben er­blühen, für die nächste Zeit ist aller Voraussicht nach zu erwarten, daß der so erfreulich gewachsene Besuch der Vorträge und Vorlesungen durch die große Entfernung des Neubaues vom Zentrum der Stadt ettvas beeinträch­tigt wird.

Selbst wenn die Fertigstellung der neuen Sammlungs­räume in den nächsten Monaten erfolgt, wird die Ueber- führung aller Sammlungen in das neue Haus und ihre Neuausstellung in diesem Sommer kaum zu bewerkstelli­gen sein, zumal auch die Aufstellung der neuen Schau- schränkc in zwei Geschossen etwa zehn Wochen "in An­spruch nahmen wird. Immerhin hofft die Gesellschaft nach lleberführung der Lehrsammlung die Vorlesung der Dozenten vom H e r b st e ab im Neubau veranstalten und auch die Abhaltung der Wintervorträge daselbst er­möglichen zu können, zumal letzterer Absicht keine erheb­lichen Schwierigkeiten entgegenstehen. Der Vorsitzende schließt mit dem Danke für die Beihülfe im abgelaüsenen Berichtssahre und besonders für die so reichlich erhalte­nen Geschenke für 'das Museum, unter denen sich ganz hervorragende auch von auswärtigen Gönnern befinden, und berichtet, daß Ihre Majestät die Kaiserin und Königin, die hohe Protektorin der Gesellschaft, in einem vor wenigen Tagen aus Hontburg v. d. H. an die Direktion gerichteten Schreiben mit Interesse von dieser wertvollen Bereicherung der Sammlungen durch ausländische Freunde Kenntnis genommen hat.

Hierauf hält Stabsarzt Tr. L. D r ü n e r hen Fest­vortrag über

Die Kiemenbögen der Wirbeltiere und ihre Abkömmlinge."

Der Stamm der Wirbeltiere, C h o r d o n i e r, ist ein durchaus einheitlicher. Tie Verwandtschaft seiner Zweige findet in dem Nachweis der Oboräa äorsalis unter den, Rückenmarks und der fegmcntalen Gliederung, Me­tamern-, ihren Ausdruck. Die Zusammengehörigkeit der einzelnen' Zweige ist aber innerhalb dieses Stammes eine sehr verschiedene.

Die Äkranier und Chclostomen sind unter einander und von allen übrigen Klassen der Wirbeltiere durch eine weite Kluft geschieden, welche sich in den meisten Einzel­heiten nicht Überdrücken läßt. Ja unter den Cyclostomen allein, zwischen Petromhzon und Myxine sind die Unter­schiede der Organisation so tiefgreifende, daß man ihren Verwandtschaftsgrad als einen entfernteren einschätzen muß, als den zwischen den äußeren Gliedern aller übri­gen Chordaten, zwischen Haien und Säugetieren. Dis enge Zusammengehörigkeit dieser letzteren hat zuerst Karl Gegenbaur in seinem fundamentalen Werke über das Kopfskelet der Selachier als Grundlage zur Beurteilung der Genese des Kopfskelettes der Wirbeltiere 1872 be­wiesen.

Der Vortragende beschränkt sich aus die Morphologie der ! Kiemenbögen des Wirbeltierstammes von den Setachiern | bis zu den Säugetieren und führt den Vergleich an dem Bau des Skelettes, der Muskeln und Nerven bei den Haien, Schwanzlurchen und Säugetieren durch. Ter Kiemendarm stellt einen trichterförmigen Sack dar, dessen Seitenwände von den Kiemenspalten durchbrochen werden. Zwischen sc zwei Ktemenspalten liegt ein Kiemenbogen, eine Skelettspange mit den die Kie- inen durchblutenden Gefäßen, mit den Kiemenbögen,

' Muskeln und Nerven. Von diesen Organen sind die Skeletteile, und die eine morphologische Einheit bildenden Muskeln und Nerven für die vergleichende Morphologie die wichtigsten. Diese gehören dem ältesten Teile des Schädels, dem Paläokranium, an. Die sekundär in den Bereich des Kiemenkorbes eingewanderte hypobranchiale Muskulatur, aus der sich die Zungenmustulatur ent- wickelt, gehört dagegen dem nachträglich an das Gehirn ! angegliedcrten 12. Gchirnnerven, dem Hypoglossus, an,

; und muß hier außer Betracht bleiben.

Bei den Selachiern ist die branchiomere Gliederung -f P7 ^ d:r Kiemenbögen, oder besser Schlundbögen, eine gleich- *-*-* artige. Nur der 1. Schlnndbogen hebt sich durch seine Einrichtungen, den Kieferapparat, heraus. Die Muskeln, die das mächtige Palatoquadratum und den Unterkiefer be­wegen, sind viel massiger als bei den nachfolgenden Schlund­bögen, namentlich der Schläfenmuskeln und der Unter- kieferhcber. Aber nian erkennt auch hier noch die allge­meine Anordnung der übrigen wieder, bei denen der Kiemenbogenmuskel eine zusammenhängende Muskelbinde darstellt, welche den Kiemenkorb vom Rücken zur Bauch­seite umgibt. Auch die Nerven zeigen von Segment zu Segment die gleiche Gliederung in einen hinter' der Kiemenspälte verlaufenden Hauptast und zwei Nebenästen, von denen der eine vor der Kiemcnspalte an der Seiten­wand, der andere an der oberen Wand des Schlundes sich verzweigt. Solcher Schlundbögen finden wir hinter den ersten beiden, dem Kiefer- und dem Zungenbeinbogen, bei den nieistcn Haien noch 5, bei den tieferstehenden noch 6 oder 7. Wir haben also bei Heptanchus 9 Schlundbögen, unter ihnen 7 Kiemenbögen im engeren Sinne.

Bei den U r o d e l e n treten mit dem Uebergang vom Wasser, zum Landleben im Bau der Schlundbögen tief­greifende Aenderungen ein.

Im Bereich des Kieferbogens gibt das Palatoquadratum seine Beweglichkeit auf. Nur der hintere Teil erhält sich als ein mit dem Schädel fest verbundenes Skelettstück, das Ouadratum. Von besonderer Bedeutung ist auch die Knochenbildung. Unterkiefer und Ouadratum erhalten ^

Knochenbelege, und an den Gelenkenden stellt sich auch eine Verknöcherung des Knorpels selbst ein. Durch den Ver­lust der Beweglichkeit des Palatognadratums wird der Schläfenmuskel ein Helfer für die Hebung des Unterkiefers beim Beißen. Die wesentlichen Veränderungen im Be­reiche des Zungenbeinbogens bestehen in dem Schwunde der 1. Schlundspalte, des Spritzloches, und der Bildung einer, die hinteren Kiemcnsp«lten überdeckenden Hautfaltc, dem Kiemendeckel. Dieser Kiemendeckel wird von den Muskeln des 2. Schlundbogennerven, des Facialis, durch­zogen, und indem er sich bis zum Schultergürtel ausdehnt und nach der Metamorphose hier festen Anhalt gewinnt, birgt er den Anfang zu Entwicklungsvorgängen der- cialismuskulatur, die im Säugctierstamm zu hoher Bedeu­tung gelangen. Schon bei den Urodelen zeigt sich eine große Verschiedenheit der Formen unter den oberflächlichen Facialismuskeln, und ihre Neigung, sich vomSchultergürtel über die Haut der Unterkieserregion auszudehnen, Mit diesen umfangreichen neuen Anforderungen, die an die Jacialismuskulatur mit dem Uebergang zum Landleben gestellt wurden, ist er aber gewissermaßen nicht allein fertig geworden; der dritte Schlundbogennero, der Glvssopharyngeus, mußte ihm durch Ausbildung einer starken Verbindung Hilfe leisten. Daraus sind die viel­fachen auch bei den Säugern, bis hinauf zum Menschen vorhandenen engen Beziehungen zwischen diesen beiden Nerven herzuleitcn.

Unter dieser oberflächlichen in den Dienst der Haut tretenden Muskulatur finden wir bei den Urodelen die am Skelett ansetzenden Muskeln in der typischen Anord- nnng. Es ist ein Heber des Zungenbeinbogens, der hier bei den meisten Formen Ansatz am Unterkiefer gewinnt, und ein zwischen den beiden Hälften sich ventral ausspan- ncnder interniandibularer Muskel vorhanden. Und im wesentlichen die gleiche Anordnung begegnet uns bei den folgenden Kiemenbögen, deren bei den Urodelen 4 auf den Zungenbcinbogen folgen. Hinter dem 4. Kiemenbogen liegt ein kleines Knorpelchen, zu beiden Seiten des Kehlkopf.-

eingängcs, dessen Muskulatur im kleinen die Anordnung wiederholl, welche die Kienienbogen zeigen, der Stellknorpel, das Arytänoid. Diesen Knorpel hat Gegenbaur daher von einem 5. Kiemenbögen abgeleitet. Nun findet man aber an der Muskulatur hinter dem 4. Kiemenbogen eine Anordnung, welche im Verein mit dem Befund einer 5. Kiemenspalte den Verlust wenigstens eines Kiemenbogens vor dem Kehlkopf schon bei den Urodelen annehmen läßt.

Man muß also den primitiven Kehlkopfknorpel, das Ary-' tänrid, von einem 6. bezw. 7. KieDenbogenknorpel bei den Vorfahren der Urodelen ableiten und aus Gruud dieser Tatsachen annehmen, daß die charakteristischen Umgestal­tungen des Urodclenkörpers, welche mit der Lustatmung zusammenhängen, bei selachierähnlichen Vorfahren mit b' oder 7 Kiemenbögen hinter dem Zungenbeinbogcn eingesetzt haben.