Frankfurter Nachrichten» Dienstag den 19. Mal 1903

Jahresfeier

^er Senckerrhergischerr Natrrrfsrschendea GeseAfchast.

Sonntag, den 17. Mai 1903.

Im festlich geschmückten Vogelsaale des naturhistorischen. Museums begrüßt zunächst der 1. Direktor Dr. med.> A u g u st Knoblauch die Erschienenen mit folgenden Ansprache:

Hochansehnliche Festvcrsammlnng!

Außer unseren wissenschaftlichen und Verwaltungs»!

/ Sitzungen und außer der Generalversammlung pflegen wir! alljährlich an einem Sonntage des Mai unsere Jahres» f e i e r abzuhaltcn. Sie soll nach unseren Satzungen eine, öffentliche Versammlung sein, in welcher bic Direktion über die wichtigsten Vorkommnisse in der Gesell-' schaft nicht nur vor dem Kreise unserer Mitglieder be­richtet. Es soll d i e ganze Bürgerschaft Frank» s u r t s Kenntnis erhalten von den großen Aufgaben, welche die Senckenbergische Gesellschaft zur Pflege und Förderung der Naturwissenschaften verfolgt, von den hohen Zielen, die' sie sich setzt, und von den positiven Leistungen, die sie voll­bracht hat, damit das rege Interesse an den Bestrebungen! der Gesellschaft in immer weiteren Kreisen wachgerufen werde! Denn in dem freundlichen Wohl-! wollen, in der tatkräftigen Unterstützung« der Frankfurter Bürgerschaft liegen b i ej starken Wurzeln des B! ü h e n s undGedei -« h e n s u n s e r e r Gesellschaft. 86 Jahre hindurch ist uns diese freundliche Gesinnung unserer Mitbürger un­unterbrochen zu teil geworden; und hierfür aufs wärmste zu danken, ist auch heute wieder meine vornehmste Pflicht.

Sodann aber geziemt es mir, im Namen der Direktion die glänzende Versammlung zu begrüßen, die uns die Ehre und Freude erweist, an dem heutigen bedeutungsvollen Feste tellzunehmen. Wir freuen uns vor allem der Anwesenheit des Herrn O b e.r b ü r g ermeisters D r. A d i ck c

'Er ist freilich kein Fremdling in unserem Kreise, sondern unser Mitglied seit langen Jahren; heute aber begrüßen wir ihn als den V e r t r e t e r u n s e r e r st ä d t i s ch e n Be­hörden, deren allseitige Anerkennung unserer Wissenschaft, lichen Leistungen in den Sitzungen der Stadtverordneten-! Versammlung vom 3. und 31. März d. Js. von uns mit j freudiger Genugtuung und mit warmem Danke empfunden worden ist! Wir begrüßen ferner die Herren Vertreter der zahlreichen hiesigen und auswärtigen wissenschaft­lichen Gesellschaften und des Lehrkörpers der Akademie für Sozial- und Handels- w i s s e n s ch a f t e n, mit denen enge und freundschaftliche Beziehungen zu pflegen wir allezeit bestrebt sein werden. Wir begrüßen nicht minder herzlich alle werten Gäste, welche unserer Einladung zum heutigen Feste gefolgt sind, und nichi zuletzt auch Sie, meine hochgeehrten Damen und Herren, die wir mit Stolz und Freude zu den Mitgliedern unserer Gesellschaft zählen!

Seien Sie alle herzlich willkommen in dieser festlichen Stunde!

Das vergangene Jahr hat uns große und schmerzliche Ver° ; luste gebracht durch den Heimgang gar vieler treuer Freunde, deren Tod nach langjähriger, segensreicher Wirksamkeu schwer auszufüllende Lücken hinterlassen hat.

' Am 1. Oktober 1902 verstarb unser außerordentliches Ehrenmitglied Justizrat Dr. Paul Hertzog, der seit­herige Administrator derGräflich Boseschen Stiftung. Mehr als 22 Jahre hat er sein Amt, zu welchem er durch das Vertrauen der hochherzigen Stifterin berufen war, bekleidet und sein vielseitiges Können, insbe­sondere seine praktische Lebenserfahrung der ihm anver­trauten Stiftung nutzbar gemacht. Die großen Verdienste, welche er sich als Organisator und Verwalter erworben hat, sichern ihm ein bleibendes, ehrendes Andenken in der Ge- schichte der Stiftung und in der Senckenbergischen Natur- forschenden Gesellschaft.

Und erst vor wenig Wochen, am 27. April d. Js-, standen wir trauernd an dem Sarge eines unserer Vesten, des Mannes, der so oft von dieser Stelle aus.

I auch im vergangenen Jahre, zu Ihnen gesprochen hat, des Oberlehrers Isaak Blum. 35 Jahre lang ist er unser Mitglied gewesen, und nicht dem Namen nach, sondern nur Lust und Liebe und mit ganzem Herzen; seit 1870 hat er dem engeren Kreise unserer Verwaltung augehört, und für

sechs zweijährige Amtsperioden hat ihn das Vertrauen unserer Mitglieder in die Direktion berufen, dreimal an die Spitze der Gesellschaft!. Und zu dieser Stellung, in welcher er in unserer Gesellschaft in außergewöhnlich hohem Grade segensreich gewirkt hat,' hat er sich aus ganz einfachen Verhältnissen emporgearbeiter durch glückliche Begabung, durch eisernen Fleiß und eine un­gewöhnliche Beharrlichkeit. Bestinimt für den Beruf eines Nabln und Schriftgelehrten, hat er seine Jugenderziehung bis zum 14. Lebensjahre in einer Talmudschule genossen, ooit Heren Einrichtung er uns in seinenErinnerungsblättern", betiteltVor länger als einem halben Jahr­hunde r.t'st eine Schilderung gibt, die an unser Ohr klingt wie eine Erzählung aus dem Mittelalter. Selbst das Lesen deutsch-gedruckter Bücher war ihm verboten; aber sein Wissensdurst ließ sich keine Schranken ziehen; in mondhellen Nächten las er sie doch, oder er lief in freien Stunden in den nähen Wald, wo er in einem hohlen Baumstamm die ver­botenen deutschen Bücher verborgen hatte. Und als er im Jahre 1855 nach Frankfurt kam, boten ihm die natur­wissenschaftlichen Institute unserer Vaterstadt, die jedem Lernbegierigen offen stehen, der Physikalische Verein und unsere Gesellschaft, die beste Gelegenheit zur Weiterbildrmg und schrieben seinem ferneren Studien- und Lebensgang die Richtung vor. Und was er damals als Lernender von der Senckenbergischen Gesellschaft em- pfangen hat, er hat es ihr als Lehrender und Gelehr- t e r reichlich zurückgegeben durch rastlose Arbeit im Dienste! «unserer Gesellschaft, im Dienste der exakten Wissenschaften! .Das Andenken eines solchen Mannes wird unvergessenbleiben!

Meine hochgeehrten Damen und Herren! Ueber unsere Tätigkeit in: abgelausenen Jahr wird Ihnen nachher unser !2. Direktor, Herr Dr. Roediger, eingehend Bericht erstatten; stur sei es nur gestattet, Ihnen noch kurz den Stand unserer Museums-Neubau-Angelegenheit darzulegen. Sie kennen den denkwürdigen Beschluß rmserer Generalversammlung vom 21. Februar d. Js. In Gemeinschaft mit deni Physi­kalischen Verein haben wir dem Vorschlag der D r. S e n k - kenbergischen Stiftungsadministration, auf deren Grund und Boden unser Museum errichtet ist, zugestimmt, unsere wissenschaftlichen Jnsti. 'tute nach der Viktoria-Allee zu verlegen. Langjährige Verhandlungen zwischen unserer Gesellschaft und der Stiftungsadministration einerseits und zwischen dieser und dem Magistrate andererseits haben uns zu diesem ungemein wichtigen Beschlüsse veranlaßt. Die Errich­tung eines Neubaus ist für uns längst zu einer brennenden Lebensfrage geworden. Die geführten Verhandlungen ließen aber immer klarer er­kennen/daß sie auf dem äliehrwnrdiaen Boden der Stiftung Menckenbergs, yuf den: unsere Gesellschaft vor 83 Jahren ein glückliches Heim gefunden hat, nicht möglich fei. Aber wir müssen voran! Nur wenige Jahre in pen überfüllten Räumen unseres alten Hauses und es würde ein Stillstand, in der Entwickelung unserer Gesellschaft ein- rreten müssen, ein''Stillstand, der gleichbedeutend wäre mit

ihrem Niedergang. S o haben wir uns s.,w streu Herzens entschlossen,von der Stelle zu scheiden, an der unsere Gesellschaft groß gewordenist.

Uns, die wir berufen sind, in dieser ernsten Zeit die Ge­schäfte der Gesellschaft zu führen, ist es eine große Beruhi­gung gewesen, daß dieser Beschluß unserer Verwaltung von der Generalversammlung ohne Wider- spruch gutgeheißen worden ist. und daß der be­treffende Antrag des Magistrats vom 24. Februar d. Js., Nr. 7663, die prinzipielle Zustimmung der Stadtverordneten-Versammlung gefun­den hat- Wir glauben ans diesen zustimmenden Kundge­bungen den Schluß ziehen zu dürfen, daß der Eutscheid, den wir getroffen haben- der richtige ist. Möge er zum Segen unserer Senckenbergischen Natur­forschenden Gesellschaft gereichen! Nachdem min dieser wichtige Entscheid getroffen ist, ist es unser sehn­lichster Wunsch, daß die schwebenden Verhand­lungen zwischen der Stiftungsadministration und dm Stadtgemeinde recht bald zu einem Abschluß führen mögen, bannt wir den Grundstein zu unserem Neu­bau legen können, bevor uns die nächste Jahresfeier in diesen Räumen wieder zusammenführt!